Autore: Leopold Steurer

 

Rif. bibl.: Steurer, Leopold, Karl Stuhlpfarrer (1941–2009). Der Historiker und Mensch, in: "Skolast. Widerstand" (2/2009), pp. 130-133)

 

Lo storico austriaco Karl Stuhlpfarrer (1941-2009)

  

 

 

KARL STUHLPFARRER (1941–2009). DER HISTORIKER UND MENSCH

 

Leopold Steurer

 

 

Begegnet bin ich Karl Stuhlpfarrer vor ziemlich genau 40 Jahren als Student am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Durch das Thema meiner 1970 begonnenen Doktorarbeit wurde ich etwas später Mitarbeiter an seinem damaligen Projekt „Option und Umsiedlung in Südtirol“. In dieser Funktion begleitete ich ihn zu Archivarbeiten nach Koblenz  (Akten des Reichskommissars für die Festigung Deutschen Volkstums im Bundesarchiv), Innsbruck (Akten des ‚Referates S’ beim Amt der Tiroler Landesregierung) und Bozen (Akten der Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland). Zur Inventarisierung und einer ersten summarischen, rein überblicksmäßigen Aufarbeitung dieses umfangreichen Materials saß ich dann für einen gewissen Zeitraum in Stuhlpfarrers Arbeitszimmer an einem Schreibtisch neben ihm. So lief unsere gemeinsame Forschung, meine Arbeit für das Doktorat und seine Vorarbeiten für die spätere Habilitation, teilweise parallel und wurde durch diesen stets harmonischen Dialog und Ideenaustausch in fruchtbarer Weise gefördert.

 

In Südtirol selbst war dieses Thema bekanntlich noch lange ein Tabu, der junge Assistent Stuhlpfarrer aber hatte gerade 1969 seine Doktorarbeit „Die Operationszonen Alpenvorland und Adriatisches Küstenland 1943–1945“ publiziert und 1968 auf der Tagung der Südtiroler Hochschülerschaft auf dem Grillhof in Igls bei Innsbruck gesprochen. Wahrscheinlich wurde er bei dieser Gelegenheit von dem ebenfalls anwesenden Claus Gatterer dazu angeregt, sich näher mit diesem Thema zu befassen. Für mich waren damals auf dem Grillhof beide, Gatterer wie Stuhlpfarrer, noch unbekannte Namen. Ich habe sie nicht bewusst wahrgenommen, ja wahrscheinlich aus meiner angeborenen Scheu vor Autoritäten heraus, gar nicht mit ihnen gesprochen. Das sollte sich bald ändern, denn beide wurden für mich in der Folge als Historiker nicht nur Lehrmeister und Förderer, sondern auch Freunde.

Emotionale oder spontane Gefühlsausbrüche zu haben und sich von ihnen treiben lassen, das war seine Sache jedenfalls nicht. Weder wenn es sich um Erfolgserlebnisse bei seiner wissenschaftlichen Forschung oder um das Erreichen einer höheren Position bei seiner beruflichen Karriere handelte, noch beim Ertragen seiner unheilbaren Krankheit, an der er seit 2007 litt.

Er hat alles mehr oder weniger mit einer gewissen inneren Distanz gegenüber den äußeren Geschehnissen des Lebens, mit stoischer Gelassenheit und Ausbalanciertheit an sich herankommen lassen. Um seine Person und Karriere hat er nie ein Aufsehen gemacht. Vor allem nicht in der Öffentlichkeit. Wenn es darauf ankam und wirklich sein musste, dann hat er lieber auf Karriere und Erfolg verzichtet als von seinen persönlichen Überzeugungen abzugehen.

Anstatt in gut dotierten Kommissionen zu sitzen und sich im Lichte der Öffentlichkeit zu sonnen, zog er es dann allenfalls vor das Problem im kleinen Kreis seiner persönlichen Freunde und im Kontakt mit den einfachen Menschen weiterzubringen. So viel mir bekannt ist, war dies nur einmal der Fall. Bei seiner Ernennung zur Mitarbeit bei der österreichisch-slowenischen Historikerkommission. Als er merkte, dass die alles auf einen faulen Kompromiss und auf politisches Opportunitätsdenken hinauslief, warf er das Handtuch.

 

Sich nicht anbiedern, Geradlinigkeit bis fast hin zur Unbeugsamkeit, das war sein wohl seine hervorstechendste Charaktereigenschaft und sein wichtigster Grundsatz. „Un carattere asciutto“ würden die Italiener sagen, einer der oft kein Wort mehr sagt als unbedingt nötig. Eben Nüchternheit, nicht zu verwechseln mit Gefühllosigkeit.

 

Das alles war bei ihm ergänzt durch eine oft bis an die Grenzen der physischen Belastbarkeit gehenden Ausdauer und Gründlichkeit. Eine gelegentlich fast spartanisch anmutende Lebensweise und Einsatzbereitschaft für das was er unter Wahrheit und Ehrlichkeit verstand und an Aufopferung von Zeit und Energie die wissenschaftliche Arbeit zu investieren bereit war. So ungefähr das wie es der deutsche Soziologe Max Weber in seinem Aufsatz „Wissenschaft als Beruf“ als Berufsethos des Wissenschaftlers beschrieben hat.

 

Ich habe keinen anderen Historiker gekannt, der solche Berge von Akten aus den Archiven herausholte und in seine Forschungen einfließen ließ. Und - das muss sogleich hinzugefügt werden - der sich dann aber nicht im Dickicht von tausenden von Fakten verlief, der nicht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sah, sondern dem es immer wieder gelang, aus den Myriaden von Informationen eine Art „Einheit der Vernunft“ (Jürgen Habermas) zu konstruieren. Kurz gesagt: sinnstiftend einzugreifen, kohärent und für den Leser verständlich Argumentationsstränge und Thesen darzulegen. Eben das, was das Handwerk des Historikers ausmacht.

 

Beschäftigung mit der Geschichte war für Stuhlpfarrer immer auch verstanden als gesellschaftspolitisches Engagement in der Gegenwart. Auf der ‚richtigen Seite zu stehen’ und offen zu sagen wo man steht, gegen als falsch oder gar gefährlich angesehene Positionen aufzutreten, davor hat er sich nie gescheut. Ohne deshalb besserwisserisch oder gar rechthaberisch zu sein. denn er war sich wohl bewusst: diese Position ergreifen war in manchen Fällen sehr einfach und leicht, in manchen hingegen war es sehr schwer.

Leicht war es z.B. im Falle der Kärntner Slowenen. Ich kann mich selbst noch gut daran erinnern, wie in jenem Oktober 1972 beim „Kärntner Ortstafelsturm“ alle soeben aufgestellten zweisprachigen Ortstafeln demontiert wurden. Es waren eh nur wenige, genau 205 an der Zahl. Aber dies war dem deutschnationalen Mob schon zu viel, für ihn war dies der Beginn der „Slowenisierung unseres deutschen Kärnten“. Aber was damals in Südkärnten demontiert wurde, waren nicht nur die zweisprachigen Ortstafeln, sondern auch der Rechtsstaat (ein Zustand, der übrigens weitgehend bis heute andauert). Für Stuhlpfarrer war dies der Anlass in die Debatte einzugreifen. Zunächst publizistisch und wenig später durch das (zusammen mit seinem Freund Hanns Haas verfasste ) Buch „Österreich und seine Slowenen“, in dem in einem historischen Längsschnitt der assimilatorische Druck auf die Slowenen Kärntens von der Monarchie bis zur Gegenwart über die verschiedenen Stationen und vermittels der unterschiedlichsten Methoden akribisch nachgezeichnet wird.

Es ist eine ausgesprochen breite Palette von Problemen, die Stuhlpfarrer im Laufe seines Forscherlebens behandelt hat. Neben den klassischen Themen der österreichischen Zeitgeschichte eines jeden jungen Assistenten (wie Parteien, Außenpolitik, wirtschaftliche und politische Entwicklung der Ersten und Zweiten Republik etc. ) wurde er später vor allem ein Experte für Konzentrationslager (Lodz, Mauthausen, Auschwitz) und ausländische Zwangsarbeiter, Nationalitäten-  und Minderheitenfragen, Erinnnerungskultur und Antisemitismus bis hin zur Beschäftigung mit moderneren Aspekten der historischen Forschung wie dem Umgang mit Fotografie und Film. Dieses sein umfangreiches Wissen hat durch die ehrenamtliche Mitarbeit in verschiedenen öffentlichen Institutionen der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt.

Worauf Stuhlpfarrer besonders und auch zu Recht stolz war, das war die Tatsache, dass er in Österreich als einer der ersten Historiker mit den Akten aus den National Archives in Washington arbeitete. Diese „Beuteakten“ des Dritten Reiches, die von den Amerikanern bei Kriegsende tonnenweise in die USA verfrachtet, dort aufgearbeitet und verfilmt wurden, konnten bereits in den 60er Jahren als Filmrollen angekauft werden. Das Lesen dieser Filmrollen gestaltete sich angesichts der damaligen Technik freilich noch einigermaßen schwierig. Denn das dafür vorhandene Lesergerät (das sich wahrscheinlich längst ein einem Archäologiemuseum für Technikgeschichte befindet) hatte seine Tücken und es bedurfte handwerklichen Könnens und langer Übung, damit die Lektüre der Filme reibungunslos gelang. Für die Reproduktion der Dokumente als Fotokopien mussten die von der Papierrolle geschnittenen Stücke Papier durch ein chemisches Säurebad, sodass sie wie nasse Leintücher aus dem Lesegerät kamen.

 

Zum Trocknen dieser Fotokopien brauchte es dann eine gewisse Zeit. Deshalb wurde diese Arbeit vorwiegend in den letzten Stunden vor Dienstschluss am Wochenende gemacht. Dann wurden vor dem Weggehen aus dem Institut die vielen Dutzenden nasser Fotokopien überall im Arbeitszimmer wo es eine ebene Fläche gab abgelegt: auf Tischen, Stühlen, Bänken und Regalen, manchmal auch bis der ganze Fußboden und Gang damit volltapeziert war. Dann durfte niemand mehr den Raum betreten, an die Tür wurde außen ein Zettel für das Putzpersonal geheftet mit der Aufschrift „Vorsicht beim Betreten!“ und unter den Mitarbeitern am Institut wurde als Kommentar vielsagend gewitzelt „Aha, der Carlone hatte wieder einmal großen Waschtag!“. Am nächsten Morgen war es dann die erste Arbeit, die trockenen Blätter in der richtigen Reihenfolge einzusammeln, zu lochen und in einen Ordner einzuheften.

 

Bereits bei seiner Doktorarbeit über die „Operationszonen Alpenvorland und Adriatisches Küstenland 1943–1945“ hat Stuhlpfarrer ausgiebig diese „deutsch-amerikanischen“ Akten benutzt und damit völliges Neuland betreten.

War Stuhlpfarrers Interesse und Engagement für die Kärntner Slowenen, zumindest in seinen Anfängen, vor allem ein wissenschaftlich-politisches, so kamen bei Südtirol seine verwandtschaftlichen Beziehungen und insbesondere die Freundschaft mit Claus Gatterer hinzu.

Und das Italienische war denn auch seine erste und von ihm geliebte Fremdsprache, was ihm im Freundeskreis den Spitznamen „Carlone“ einbrachte unter dem ihn später alle kannten. Das sanftere Wort „Carletto“ wäre ja nicht gegangen angesichts seiner Körpergröße, dafür war es aber so gemeint. Wann immer es am Institut für Zeitgeschichte Probleme irgendwelcher Natur mit Italien gab, dann war Carlone dafür zuständig.

Auf italienisch erschien denn auch Carlones erster Artikel in einer ausländischen Fachzeitschrift: Eine Sammelbesprechung von mehreren Büchern zur Südtirolfrage in der «Storia Contemporanea» 1971 und übrigens ein bis heute lesenswerter Artikel. Eine bemerkenswerte Leistung in einer Zeit, da grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Historikern noch lange nicht zum Alltag gehörte!

So wurde Stuhlpfarrer in Italien als einer der ersten österreichischen Historiker bekannt und ein Begriff, so wie umgekehrt sein Freund Enzo Collotti dank seiner Deutschkenntnisse ein bekannter italienischer Historiker in Österreich wurde.

Stuhlpfarrers Beschäftigung mit Südtirol als Historiker und kritischer Zeitgenosse begleitete ihn sein ganzes Leben lang wobei als sein persönliches Markenzeichen hinzu kam, dass dies immer auf dem Hintergrund einer komparativen Betrachtung mit anderen Minderheiten in Europa geschah.

Seine Beteiligung an den österreichisch-italienischen Historikertreffen von Innsbruck und Venedig 1971-1972 (die sozusagen als „wissenschaftliche Begleitmusik“ zum Abschluss der  Vereinbarungen über Südtirol zwischen Rom-Bozen-Wien von 1969 stattfanden) machten ihn endgültig und auch bei politisch konservativen Kreisen zu einer anerkannten Autorität, an der aufgrund seines  fundierten Fachwissens niemand mehr vorbei kam.

 

Die Bedeutung der Habilitationsschrift Stuhlpfarrers (Umsiedlung Südtirol 1939-40, 2 Bde, Wien 1985) geht weit über den Problemkreis Südtirol hinaus. Sie wurde zu einem immer wieder zitierten Standardwerk bei allen Forschungen zur NS-Volkstums- und Umsiedlungspolitik während des Zweiten Weltkrieges.

Bei den Studenten als Professor beliebt war Stuhlpfarrer nicht bloß wegen seiner lockeren Umgangsformen, sondern auch weil er oft seine Seminare durch Exkursionen ergänzte.

Seit der Übernahme des Lehrstuhles für Zeitgeschichte an der Universität Klagenfurt Mitte der 90er Jahre konzentrierte sich Stuhlpfarrers Arbeit ganz auf den Grenzraum Österreich-Slowenien-Italien. Als zeitweiliger Gastprofessor an den Universitäten Ljubljana und Triest, durch viele Kontakte mit Historikern Sloweniens und Italiens und Beiträge in den Fachzeitschriften dieser beiden Länder leistete Stuhlpfarrer als engagierter Historiker einen wichtigen Beitrag zum europäischen Einigungs- und Friedensprozess in dieser Region. Und dass dies bei ihm keine leere Worthülse blieb unterstreicht die Tatsache, dass es für ihn eine Selbstverständlichkeit war, auch die slowenische Sprache zu erlernen. Die Slowenen dankten es ihm mit seiner Ernennung zum Mitglied der Slowenischen Akademie der Wissenschaft in Ljubljana und der Verleihung des Vinzenz-Rizzi-Preises.

 

In den letzten Jahres seines Lebens übernahm Stuhlpfarrer noch die Leitung des “Sommerkollegs Bovec“. Dort, im oberen Isonzotal ganz in der Nähe zum Kriegsmuseum in Kobarid/ Caporetto/ Karfreit, trafen und treffen sich jeden August Universtitätsstudenten aus vielen Ländern Europas, um vor Ort und ausgehend vom Studium des Ersten Weltkrieges sich in drei Sprachen ( slowenisch, deutsch, italienisch ) mit der Landschaft, den Sprachen und Kulturen dieses Grenzraumes zu beschäftigen. Stuhlpfarrer hat es noch im August 2008, bereits stark gekennzeichnet und beeinträchtigt durch seine Krankheit, mit seiner Anwesenheit beehrt. Aus Gesprächen mit ihm dort in Bovec im August 2008 glaube ich herausgehört zu haben, dass dies überhaupt eines seiner Lieblingsprojekte war: Als Wissenschaftler über die kritische Aufarbeitung der Geschichte den jungen Generationen die Botschaft von der Notwendigkeit des Friedens und der Versöhnung in Europa zu vermitteln.

 

Mit Karl Stuhlpfarrer haben Österreich einen großen Historiker, die Kärntner  Slowenen einen wichtigen Schutzpatron und Südtirol einen loyalen Freund verloren, der immer mit kritischer Solidarität und solidarischer  Kritik das Geschehen in unserem Lande mitverfolgte.

Adieu, Carlone!