Autore: Leopold Steurer

Rif. bibl.: Steurer, Leopold, Die „Feuernacht“: Hintergründe und Scheitern einer Strategie. In: Faschismus an den Grenzen/Il fascismo di confine, «Geschichte und Region/Storia e Regione», a. 20 (2011), n. 1, pp. 103-121

 

 

DIE “FEUERNACHT”:

HINTERGRÜNDE UND SCHEITERN EINER STRATEGIE

 

Leopold Steurer

 

 

Geistige Aufrüstung “Anno Neun”

 

Die Ereignisse rund um das Andreas-Hofer-Gedenkjahr 1959 bildeten eine wichtige Etappe auf dem Weg zur sogenannten „Feuernacht“ des Juni 1961. Vor allem für weite Kreise der Bevölkerung dies- und jenseits des Brenners stellten viele diesen Feiern zur Erinnerung an 1809 so etwas wie eine massenpsychologisch wirksame, geistig-politische Aufrüstung dar. Die dabei in Festreden, Theateraufführungen und Zeitungsartikeln immer wieder beschworene Analogie zwischen dem Aufstand der Tiroler gegen die „Fremdherrschaft“ der Bayern und Franzosen von Anno Neun mit dem aktuellen Kampf der Südtiroler um „Freiheit und Recht“ war zweifellos dazu angetan, in den Herzen und Köpfen vieler Menschen in Süd- und Nord-Tirol so etwas wie einen neuen kämpferischen Patriotismus entstehen zu lassen, wobei die Grenzen des angestrebten Zieles zwischen einer mehr rational-realpolitischen begründeten Idee einer „autonomen Region Südtirol“ (das „Los von Trient!“ von 1957) und einer rein utopisch-emotionalen Hoffnung auf eine Grenzänderung durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes (das „Los von Rom!“) keineswegs klar gezogen waren, sondern vielmehr sich vermischten und überlagerten.

Am deutlichsten kam die Gleichsetzung von 1809 und 1959 in einem Flugblatt zum Ausdruck, das am Rande des großen Landesfestumzuges in Innsbruck vom 13.09.1959 als dem Höhepunkt des Gedenkjahres verteilt wurde. Darin hieß es:

„1809 wurde der Kampf gegen die Fremdherrschaft nicht durch Zuschauen geführt. 1959: Seit 40 Jahren wird Südtirol von Fremden beherrscht. Schauen wir nicht länger zu! Tiroler, Gäste, kämpft mit! Für das Selbstbestimmungsrecht! Für die Einheit Tirols in einem freien Europa! Im Gedenken an 1809, im Namen der Freiheit rufen wir die Welt: Macht Südtirol frei!“.

Der offiziell parteienübergreifend strukturierte Bergisel-Bund (BIB) als der organisatorisch und politisch wichtigsten pressure-group der österreichischen und Tiroler Südtirolpolitik hatte schon im Mai 1959 bei seiner Kundgebung in Wien die Resolutionsforderung gefasst „Sofortiger Abbruch der italienisch-österreichischen Verhandlungen über Südtirol!“

Im Südtiroler Ruf, dem Mitteilungsblatt des BIB vom Juli 1959, wurde diese an die österreichische Bundesregierung gerichtete Forderung unter anderem mit folgendem Kommentar versehen:

„Wenn aber kein gutes Ende möglich ist, dann müssen wir eben ein anderes wählen, nämlich ein brüskes, männliches, demonstratives! […] Längeres Zuwarten ist da keine - auch keine ‚diplomatische‘ – Tugend mehr […] Ohne Gerechtigkeit keine Zufriedenheit. Ohne Zufriedenheit kein Friede. Hier aber schwingt das Pendel zurück. Und möglicherweise mit einer Wucht, von der sich auch die einsichtsvollsten Italiener keinen rechten Begriff machen können! Aber auch wir sollten da sehr nachdenklich werden. Denn blicken wir uns doch einmal um. Rühren sich nicht etwa da und dort bereits Kräfte, die – heute noch unter Kontrolle – morgen zu einem entscheidenden Element im Kampfe um Südtirol werden könnten? Die gerade Italien am allerwenigsten zu wecken trachten sollte! Weshalb? Weil dann – hüben wie drüben – eine Radikalisierung Platz greifen würde, die […] zweifelsohne zu ähnlichen Entwicklungen führen könnte, wie in Algerien“.

Dies war ein wenn auch kryptisch formulierter, so doch unmissverständlicher Hinweis auf den damals noch in seiner Aufbauphase befindlichen Befreiungs-Ausschuss Südtirol (BAS). Mit der Erwähnung von Algerien war auch das Stichwort gegeben, über welche politisch-wissenschaftliche Argumentationsschiene der BIB in der Öffentlichkeit das Selbstbestimmungsrecht für Südtirol populär zu machen versuchte, nämlich der Gleichsetzung der Lage der Südtiroler im italienischen Staat mit der Situation der Völker Afrikas und der Dritten Welt bei ihrem Befreiungskampf für die staatliche Unabhängigkeit zur Beseitigung von kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung. Zu diesem Zweck hatte denn auch in den Tagen unmittelbar nach dem Landesfestumzug vom 13.09.1959 auf Anregung von Wolfgang Pfaundler, Aloys Oberhammer und Eduard Widmoser ein von der Tiroler Landesregierung organisierter Kongress zum Thema Minderheiten und Selbstbestimmungsrecht stattgefunden.

Durch die Teilnahme des indischen Oppositions- und Unabhängigkeits-Politikers Minocher R. Masani sowie des antifaschistischen, spanisch-baskischen Rechtsgelehrten, Diplomaten und Vordenkers eines Vereinten Europas, Salvador de Madariaga, kam dem Kongress durchaus auch eine gewisse internationale Bedeutung zu. Dass der vom Publizisten und damaligen Nordtiroler BAS-Chef Pfaundler ebenfalls eingeladene militärische Führer der griechisch-zypriotischen Unabhängigkeitsbewegung EOKA, Georgios Grivas, seine Teilnahme aus zeitlichen Gründen kurzfristig absagte, konnte – zumindest, aber nicht nur, ex post betrachtet – nur als glücklicher Umstand gewertet werden, denn damit wären die Bestrebungen des BIB zur Einforderung des Selbstbestimmungsrechtes für Südtirol zweifellos schon damals in der politisch-diplomatischen Szene Europas in das schiefe Licht und die Nähe zu terroristischen Aktionen gerückt und diskreditiert worden.

Aber die Tatsache, dass in jenen Jahren in Kreisen der Innsbrucker Südtirolpolitik der Ausdruck von der Notwendigkeit eines „zypriotischen Weges“ für Südtirol zum geflügelten Wort wurde, zeigt nur dass innerhalb des BIB-Führungskreises von Anfang an zwei, sich schließlich in der „heißen Phase“ des Frühjahrs/Sommers 1961 nicht mehr vereinbare strategische Linien gegenüberstanden: auf der einen Seite die Gruppe um Franz Gschnitzer und

Viktoria Stadlmayer, die überzeugt war, dass im „Vertrauen auf das Recht“ für Südtirol die Grenzänderung vermittels des Selbstbestimmungsrechtes, als allfällige Kompromisslösung aber zumindest eine “autonome Region Südtirol“ zu erreichen sei und auf der anderen Seite die Gruppe um Widmoser, Pfaundler, Oberhammer, für die ausschließlich die Grenzänderung und zwar auch mit den allenfalls dafür notwendigen Mitteln des bewaffneten Kampfes in Frage kam.

Nach Landesfestumzug und wissenschaftlich-politischem Kongress mit internationaler Beteiligung gab es im September 1959 in Innsbruck eine weitere wichtige Entscheidung: Der BIB beschloss, von nun an die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht für Südtirol zur offiziellen Linie seiner politisch-propagandistischen Arbeit zu machen.

Wenngleich dieser Beschluss einerseits von allen Mitgliedern des Führungsgremiums einstimmig mitgetragen wurde, so unvermeidlich war es in der Folge andererseits, dass der BIB damit auf Kollisionskurs mit der offiziellen Außenpolitik Wiens und – in einer freilich anders gelagerten Art und Weise – auch mit der offiziellen Politik der SVP in Bozen geraten musste.

Franz Gschnitzer in seiner undankbaren Doppelrolle als Staatssekretär im Wiener Außenamt und daher auch diplomatischer Verhandlungspartner mit Rom wie als Obmann des BIB konnte denn auch diese Gratwanderung zwischen den beiden Positionen nach der UNO-Resolution vom Oktober 1960 mit ihrer expliziten Ablehnung von Grenzänderung bzw. Gewaltanwendung nicht mehr lange durchhalten. Roberto Chelli, der italienische Botschaftsrat in Wien, verglich denn auch einmal im Dezember 1959 in einem Gespräch mit seinem Amtskollegen von der britischen Botschaft in Wien, J. Peter Tripp, Gschnitzer mit der Rolle von Dr. Jekyll und Dr. Hyde: In seinen Äußerungen als Staatssekretär beklage er gegenüber den italienischen Gesprächspartnern die Nichtdurchführung des Pariser Vertrages, in seinen öffentlichen Reden als Obmann des BIB fordere er hingegen die Gewährung des Selbstbestimmungsrechtes für Südtirol.

Im Frühjahr 1961 musste Gschnitzer auf italienischen Druck hin als Staatssekretär entlassen werden. Viktoria Stadlmayer, in ihrer Funktion als langjährige Leiterin des „Referates Südtirol“ und damit so etwas die die „graue Eminenz“ der Tiroler Südtirolpolitik seit 1945, bezeichnete die Ersetzung Gschnitzers durch Botschafter Ludwig Steiner als eine Wende in der österreichischen Südtirolpolitik. „Gschnitzers Politik war es gewesen“, so Stadlmayer in einem Artikel von 1993 zur Erinnerung an ihren politischen Freund und Mentor, „mit größter Konsequenz unter Anwendung aller Mittel des Rechts die italienische Seite unausweichlich in ein Entweder-Oder zu zwingen: vollständige Autonomie oder Selbstbestimmung. Das Recht wäre in beiden Fällen auf der Seite Tirols gewesen“.

Um die realpolitisch auf das Ziel einer „autonomen Region Südtirol“ ausgerichtete SVP-Politik in Bozen entsprechend zu beeinflussen, setzte

das Führungsgremium des BIB deshalb seit dem Oktober 1959 eine ausgeklügelte Strategie in Gang: In den folgenden Wochen und Monaten wurden die Ortsobmänner der SVP, systematisch Bezirk für Bezirk, nach Innsbruck eingeladen. Dort hörten sie nach einem Empfang im Landhaus einen „aufklärenden“ Vortrag von Seiten des Führungs-Trios des BIB (Pfaundler, Oberhammer, Widmoser) um am Ende in einer „geheimen“ Abstimmung ihre Vorstellungen bzw. Wünsche bezüglich des anzustrebenden Zieles in der Südtirolpolitik mit der Alternative „Provinzial-Autonomie oder Selbstbestimmung“ zu Papier zu bringen. So sollte auf der für Mai 1960 angekündigten Landesversammlung der SVP die realpolitische, vor allem von Obmann Silvius Magnago und den Parlaments- und Landtags-Abgeordneten vertretene Linie des Parteiausschusses, durch entsprechenden Druck von Seiten der Parteibasis in Richtung „Selbstbestimmungsrecht“ beeinflusst werden. Denn die Forderung nach dem „Selbstbestimmungsrecht für Südtirol“ konnte selbstverständlich aus leicht einsichtigen Gründen nur dann glaubhaft in der Öffentlichkeit vertreten werden, wenn sie von den Betroffenen selbst, nicht aber stellvertretend für sie von irgendeiner Organisation oder Partei in Österreich kam.

 

 

Unterschiede zwischen BAS-Nord und BAS-Süd

 

Josef Fontana, als ein Vertreter der „jüngeren“ Generation der BAS-Mitglieder und enger Freund von Sepp Kerschbaumer, schrieb in einem Beitrag von 1992:

„Welche Ziele verfolgte nun der BAS genau? Sein vordringlichstes Anliegen war, den italienischen Verdrängungs- und Majorisierungsprozess zum Stillstand zu bringen...[...]...Nicht so einfach ist es, über die Endziele des BAS Aufschluss zu geben, ohne nachträglichen Umdeutungen und Zurechtlegungen zu verfallen. Ging es um die Selbstbestimmung oder um die Autonomie? Es dürfte im BAS – nördlich und südlich des Brenners – kaum jemanden gegeben haben, der nicht die Selbstbestimmung oder – noch genauer – die Rückkehr Südtirols zu Österreich gewünscht hätte. Aber eines war Wunsch, und etwas anderes waren die realen Möglichkeiten“.

Diesem Urteil kann man nur zustimmen, denn die „Befreiung Südtirols“ von der „italienischen Fremdherrschaft“ war zweifellos die gemeinsame Grundlinie des BAS in Nord- und Südtirol. Aber über die Möglichkeit der Erreichung dieses Endziels und die dabei notwendigen bzw. erlaubten Methoden und Instrumente gab es von Anfang an unterschiedliche Vorstellungen, die zwar nicht ganz ausschließlich, aber doch im Wesentlichen im Unterschied zwischen BAS-Nordtirol und BAS-Südtirol begründet waren. Lediglich zwei so wichtige Protagonisten aus Südtirol wie Luis Amplatz und Georg Klotz waren von Anfang außer von Sprengstoffanschlägen symbolischer Natur auf Objekte des italienischen Staates auch von der allfälligen Notwendigkeit und Berechtigung eines militärischen Guerillakrieges etwa nach dem Vorbild Zyperns oder Algeriens überzeugt. So war es denn wohl auch kein Zufall, dass

von allen BAS-Mitgliedern in Südtirol lediglich diese beiden im Frühjahr/Sommer 1961 zu ihren Freunden nach Nordtirol flüchteten, während alle anderen einen derartigen Gang ins politische Exil, um sich der Verhaftung zu entziehen, bewusst ablehnten.

„In Nordtirol“ so schrieb Hans-Karl Peterlini, „wächst der BAS aus dem Bergisel-Bund heraus“. Damit ist auch schon weitgehend dessen soziales, kulturelles und weltanschauliches Umfeld charakterisiert: das bürgerlich-städtisch-intellektuelle Bildungsbürgertum (Freiberufler, Beamte, Intellektuelle vom Schriftsteller und Musiker bis zum Angehörigen der Universität). Das Versagen ihrer Vätergeneration in puncto Südtirolpolitik in der Zeit des Austrofaschismus vor 1938 und des Dritten Reiches nach 1938 war sicherlich ein zentrales movens ihres bedingungslosen Einsatzes für Südtirol geworden, so dass für sie nur eine „Rückkehr“ Südtirols zu Österreich, aber keinerlei Autonomielösung in Frage kam. Die Radikalität ihres Einsatzes für Südtirol wurde freilich auch dadurch erleichtert, insofern sie außer ihrer personell-ideologischen Verankerung im politischen Parteiensystem Tirols und Österreichs auch auf die stillschweigende Duldung, wenn nicht gar aktive Kollaboration von Seiten der staatlichen Institutionen (Gendarmerie, Justiz, etc.) zählen konnten.

Das weltanschauliche Spektrum des BAS-Nord war im Unterschied zum BIB, der zwar offiziell parteienübergreifend organisiert, de facto aber weitgehend eine Vorfeldorganisation der ÖVP-Tirol war, um einiges enger: Die sozialdemokratische Komponente fehlte vollständig, die Bandbreite reichte von einem pan-tirolischen Österreich-Patriotismus über den freiheitlichen Deutschnationalismus bis zum expliziten Rechtsextremismus.

Vollkommen unterschiedlich zu Nordtirol rekrutierten sich in Südtirol die Mitglieder des BAS ausschließlich aus kleinbürgerlich-bäuerlich-proletarischen Schichten (Handwerker, Angestellte, Arbeiter, Bauern). Angehörige bürgerlich-intellektueller Kreise in den Städten fehlten ebenso wie jene der Ladiner. Die Kader und Unterstützer des BAS-Südtirol kamen vor allem aus dem Südtiroler Schützenbund, dem Alpenverein und dem Südtiroler Kriegsopfer- und Frontkämpferverband, wobei es zwischen diesen Vereinen vielfach personelle Überschneidungen gab. Viele von ihnen waren auch in den Ortsgruppen der SVP sowie in verschiedenen Vereinen rein kultureller Natur tätig gewesen. Dabei war die politische Sozialisation der vor 1930 geborenen Generation der Sympathisanten und Mitglieder des BAS-Südtirol auffallenderweise in vielen Fällen von Drittem Reich und Nationalsozialismus geprägt (Mitglieder des Völkischen Kampfringes Südtirol bzw. der Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland, oft mehrfach dekorierte Wehrmachts-Freiwillige des Jahres 1939, Soldaten der Wehrmacht oder der Waffen-SS in Spezialeinheiten wie den Gebirgsjäger-Pionieren oder den Brandenburgern, Schüler der Reichsschule für Volksdeutsche in Rufach, Gründungsmitglieder des Südtiroler Schützenbundes 1958).

Allein schon die Tatsache, dass z. B. viele Offiziere des Südtiroler Schützenbundes bei ihrem öffentlichen Auftreten (bei Feiern, bei SVP-Versammlungen, beim Landesfestumzug in Innsbruck im September 1959) mit Stolz die während des Zweiten Weltkrieges erhaltenen militärischen Auszeichnungen zur Schau trugen, veranschaulicht zur Genüge, dass bei ihnen die nicht aufgearbeitete NS-Vergangenheit eine wesentliche Rolle spielte. So sehr die kleine Gruppe (ca. 200 bis 250 Personen) des BAS-Südtirol einerseits die allgemeine Mentalität der Südtiroler Bevölkerung in Bezug auf deren Unzufriedenheit mit der Autonomie und eine rein emotionale Bejahung von Selbstbestimmungsrecht und damit „Rückkehr zu Österreich“ widerspiegelte, so wenig repräsentierte sie andererseits die Überzeugung der großen Mehrheit, dass nur mit terroristischen Aktionen der Gewaltanwendung diese Situation geändert werden sollte und könnte. Die vollkommen passive Haltung und das Ignorieren aller Appelle des BAS zur Teilnahme am Kampf um die „Befreiung Südtirols“ in den Tagen unmittelbar nach der „Feuernacht“ im Juni 1961 belegen anschaulich diesen Sachverhalt.

 

 

Die Gratwanderung der SVP

 

Die sogenannte „Palastrevolution“ vom Mai 1957, die zur Ablöse der Gründergeneration um Erich Amonn-Josef Raffeiner durch die „Wehrmachtsgeneration“ geführt hatte und die Massenkundgebung von Sigmundskron hatten noch keine unmittelbare und sichtbare Auswirkungen auf die Veränderung der politischen Position der SVP in Rom und Trient zur Folge gehabt. Alle fünf im Mai 1958 gewählten Parlamentarier (Riz, Ebner, Mitterdorfer, Tinzl und Sand) gehörten der autonomiepolitisch-gemäßigten Richtung an, sie waren in den folgenden Jahren keine Befürworter des Selbstbestimmungsrechtes, sondern entsprechend ihrem Gesetzesentwurf von 1958 Verfechter einer Provinzial-Autonomie und auch in Trient setzte die SVP vorerst ihre Zusammenarbeit mit der DC fort.

Erst die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom Jänner 1959, das den Regierungsbeschluss zum Volkswohnbau in der Provinz Bozen vom Oktober 1957 („Togni-Plan“), der laut Statut von 1948 eigentlich zur primären Kompetenz der Provinz Bozen gehörte, für verfassungsgemäß erklärte, brachte das Fass zum Überlaufen. Nunmehr kündigte Ende Jänner 1959 die SVP ihre Regierungsbeteiligung in Trient auf, sie stimmte auch im Februar 1959 gegen die neue monokolore, rechtsgerichtete DC-Regierung von Antonio Segni.

Gründe für die Unzufriedenheit der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols mit der Umsetzung der im Pariser Vertrag von 1946 und Autonomiestatut von 1948 zugesicherten Autonomie gab es Ende der 50er Jahre aus verständlichen Gründen genug, wobei die DC-Regierungen in Rom und Trient gleichermaßen die Verantwortung trugen: verspätete bzw. überhaupt nicht erlassene Durchführungsbestimmungen zu einigen

Punkten des Autonomiestatutes, speziell die nicht erfolgte Delegierung von Verwaltungskompetenzen der Region an die Provinz Bozen (Art. 14 ), der Modus der Vergabe von Sozialwohnungen und Stellen im staatlichen Bereich des öffentlichen Dienstes mit dem klaren Ziel einer Förderung der Zuwanderung von Italienern bei gleichzeitiger Abwanderung von ca. 10.000 jungen deutschsprachigen Südtirolern ins Ausland , die weitgehende Missachtung der Zweisprachigkeit der öffentlichen Verwaltung im Bereich der Ämter des Staates (vor allem Justiz-, Eisenbahn- und Finanzbehörden) in der Provinz Bozen. All dies trug dazu bei, dass trotz der hohen Geburtenüberschüsse und des generellen Wirtschaftswachstums in ganz Italien und Europa der Übergang der deutschen Sprachgruppe in Südtirol von einer ländlich-bäuerlichen und handwerklich-agrarischen zu einer mehr städtisch geprägten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft nicht erfolgen konnte. Spektakuläre Fälle von politischen Justizurteilen wie etwa im „Pfunderer Prozess“ von 1957 schufen zusätzlich in der öffentlichen Meinung massenpsychologisch ein Klima emotionaler Gereiztheit der Südtiroler Minderheit.

Diese Situation sozialer Frustration, enormer Rückständigkeit im bildungspolitischen Bereich und politischer Unzufriedenheit der deutschen Sprachgruppe entlud sich in einer Steigerung volkstumspolitischer Forderungen. Die Massenkundgebung von Sigmundskron im November 1957 sowie der Gesetzesentwurf der SVP-Parlamentarier zur Errichtung einer autonomen „Region Südtirol“ von 1958 waren beredter Ausdruck dafür. Die Regierungen in Rom unterschätzten diese dramatische Zuspitzung der Lage in Südtirol vollkommen und aus diesem Umfeld entstanden die ersten Zellen des Befreiungs-Ausschusses Südtirol (BAS).

Den von der SVP bei ihren ersten Begegnungen mit dem neuen Außenminister Bruno Kreisky im Sommer 1959 vorgebrachten Wünschen, Wien möge Rom ein Ultimatum stellen und im Falle weiterer unbefriedigender Antworten Anfang 1960 die diplomatischen Gespräche abbrechen, die Südtirolfrage dann vor die UNO bringen und dort das Selbstbestimmungsrecht fordern, erteilte dieser eine klare Absage. „Nichts ist so gefährlich, wie ein Ultimatum zu stellen. Dazu gebe ich mich nicht her, zu jenen Ultimaten, unter denen die Welt leidet, ein neues hinzuzufügen“, erklärte Kreisky bei der Südtirolkonferenz in Innsbruck vom 1. August 1959. Die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht für Südtirol (und damit implizit einer Grenzänderung) von Seiten des neutralen Österreich sei ebenfalls illusorisch, so Kreisky weiter:

„Zu glauben, dass verbündete Staaten einander in der Generalversammlung desavouieren würden, wäre Illusion. Hinzu kommt, es könnte Leute geben, die meinen, die Österreicher haben recht, aber kann sich die UNO zwei schwere Konflikte mit zwei Verbündeten der NATO leisten, einen permanenten Algerienkonflikt mit Frankreich und einen neuen Konflikt mit Italien?“

Realistisch und mit Aussicht auf Erfolg vertretbar sei hingegen vor der UNO die Forderung nach einer Provinzial-Autonomie für Südtirol:

„Die Autonomie: dagegen kann niemand etwas einwenden. Gehen wir zur UNO, dann sollen wir für die Autonomie eintreten...[...]...Man kann nicht sagen, wir geben einer Volksgruppe keine echte Selbstverwaltung, weil es der Sicherheit des Staates widerspricht...[...]...Auch das Problem Zypern, das mit einem solchen Aufwand an Kraft und Opfern wie kein anderes auf die Tagesordnung der Weltpolitik gesetzt wurde, wurde nicht nach dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts, sondern nach anderen entschieden. Ich bin der Meinung, das wir die Autonomie fordern müssen.“

Noch deutlicher formulierte Kreisky bei einer weiteren Südtirolkonferenz in Innsbruck am 20. Jänner 1960 seine Ansicht, dass die Südtirolfrage für ihn nicht so sehr ein Grenzproblem zwischen zwei Staaten, sondern vor allem ein ungelöstes Problem gesellschafts- und demokratiepolitischer Natur sei: in dem Sinne, dass eben bisher die Südtiroler deutsch- und ladinischsprachiger Zunge in wichtigen Bereichen ihrer sozialen und kulturellen Interessen und Bedürfnisse nicht dieselben staatsbürgerlichen Rechte genießen würden wie ihre italienischsprachigen Mitbürger.

„Die Autonomie ist ein Teil des Selbstbestimmungsrechts. Denn die Autonomie ist Selbstverwaltung und die Selbstverwaltung, in der Sie selbst bestimmen, ist Selbstbestimmungsrecht. Die Auffassung, dass nur die Frage, zu welchem Staat man gehört, Selbstbestimmungsrecht ist, ist falsch. Nun besteht die Gefahr, dass die Italiener sagen werden: ‚Über die Autonomie verhandeln wir nicht‘. Dann, meine Herren, sage ich Ihnen ganz offen, als einer der kein Scharfmacher ist, ist das international keine schlechte Ausgangslage. Ich wiederhole das, was ich immer gesagt habe: Die Autonomie hat lange nicht die Sprengkraft in der Welt wie die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht; denn das bedeutet Revision einer von der NATO garantierten Grenze. Da rührt man also nicht an ein italienisches Problem, sondern an ein weltpolitisches Problem. Bei der Autonomie hat man mit der NATO keinen Konflikt zu befürchten. Wenn dann die Italiener sagen, wir reden über diese Frage nicht, sie brechen ab, was ich gar nicht glaube, dann sind nicht wir diejenigen, die eine schlechte Ausgangslage haben, sondern die Italiener. Und mit der Autonomie lässt sich bei aller Ablehnung durch die Amerikaner international bestehen“.

Mit diesen Klarstellungen waren in Südtirol wie in Österreich die Trennlinien zwischen den Realpolitikern, die eine erweiterte Autonomie für die Provinz Bozen anstrebten, und den hardlinern, die weiterhin unbeirrt das Selbstbestimmungsrecht und die Grenzänderung verfochten, gezogen. Die ersteren hielten in der Folge konsequenterweise denn auch die UNO-Resolution vom 31.10.1960 für einen Erfolg, während letztere sie mit herber Enttäuschung als eine Niederlage ansahen. Aber noch bevor durch diese UNO-Resolution klar der Weg der Diplomatie gegen die Strategie der Gewalt vorgegeben wurde, war es absehbar, dass in der Südtiroler Öffentlichkeit der BAS schon lange vor der „Feuernacht“ den Kampf um die Akzeptanz seiner Forderungen in der Bevölkerung verloren hatte.

Dies ließ sich an mehreren Ereignissen des Jahres 1960 ablesen. Magnago und mit ihm die große Mehrheit der SVP hatten vorbehaltlos die realpolitische

Linie Kreiskys übernommen, während für den BAS und dessen Sympathisanten nur die Grenzänderung in Frage kam. Ins Zentrum der medialen und politischen Aufmerksamkeit rückte daher die für Mai 1960 angekündigte Landesversammlung der SVP, in deren Vorfeld die (bereits oben erwähnte) im September 1959 vom BIB in Innsbruck beschlossene Strategie der massiven Beeinflussung der SVP-Ortsobmänner in Gang gesetzt wurde.

Schon bei der SVP-Parteileitungs-Sitzung vom 14.12.1959 beklagten gleich drei wichtige Exponenten der Partei (Friedl Volgger, Peter Brugger und Alois Pupp) die ihrer Überzeugung nach „hetzerische Tätigkeit“ von Propagandisten aus dem Umkreis des BIB bzw. des BAS-Nordtirol.

Bei der SVP-Parteileitungs-Sitzung vom 4. April 1960 stand diese Problematik praktisch im Zentrum der mehrstündigen und heftig geführten Debatte. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass die SVP-Ortsobmänner von bereits vier (der insgesamt sieben) Bezirke in Innsbruck zu dieser „Aufklärungsarbeit“ im Sinne des BIB eingeladen worden waren. Am heftigsten von allen Kritikern dieser Propagandaarbeit des BIB war die Erregung bei SVP-Parteiobmann Magnago zu spüren, der unter anderem bemerkte:

„Es ist dies jetzt der zweite Fall, und ich verlange jetzt von der Parteileitung, dass da einmal eingegriffen wird, und ich werde hier Vorschläge machen.

Es ist also so: Der BIB ladet die Ortsobmänner ein. Ich freue mich sehr darüber, aber leider ist es so, dass Widmoser die Gelegenheit ausnutzt, um unsere Ortsobmänner nach einer Richtung hin zu bearbeiten, die heute nicht der offiziellen Richtung der Partei entspricht...(...)...Abgesehen von der Unkorrektheit dieser Aktion, was ist passiert? Der Bezirk Brixen geht hinaus mit den Ortsobmännern. Dort hält Dr. Widmoser auch seine Rede und plädiert für das Selbstbestimmungsrecht und lässt die Ortsobmänner geheim abstimmen, ob sie für oder gegen das Selbstbestimmungsrecht sind.

Nun sehen sich diese Ortsobmänner, die draußen zu Gast sind, in einer schwierigen Situation, denn sie kommen nach Österreich und wollen natürlich alle zeigen, wie brav sie sind, und wenn Widmoser schon für das Selbstbestimmungsrecht plädiert und dann geheim abstimmen lässt, darf man nicht vergessen, in welche psychologische Situation diese Ortsobmänner kommen. Sie werden draußen moralisch gebunden und werden sich hier schwer tun, eine andere Haltung einzunehmen. Das war der krasse unkorrekte, kolossale Fall des Bezirkes Brixen“.

Magnago berichtete auch darüber, dass er sich bereits bei Viktoria Stadlmayer über diese Beeinflussung der SVP-Ortsobmänner beschwert habe. Genutzt habe es wenig und nunmehr sei, auch wenn bis zur Landesversammlung vom 7. Mai keine weiteren „Innsbruck-Reisen“ mehr stattfinden sollten, der Schaden schon geschehen.

In einem wahrhaft gigantischen Kraftakt (Flugblatt-Aktion von Luis Amplatz, Einschleusung nicht teilnahme- und abstimmungsberechtigter Personen in den Versammlungsaal etc.) versuchten am 7. Mai die Mitglieder und Sympathisanten des BAS-Südtirol die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht gegen die von der Parteileitung vorgelegte Resolution durchzuboxen. Sie beherrschten mit ihren vielen Redebeiträgen eindeutig die

Landesversammlung, aber ihr Plan gelang letztlich nicht und wahrscheinlich nur noch einmal wie hier – nämlich bei der legendären Paket-Abstimmung vom 22.11.1969 – war die charismatische Leaderfigur von Obmann Magnago so ausschlaggebend, um der realpolitischen Linie der Partei eine knappe Mehrheit zu gewährleisten.

 

 

Die Mahnungen des Bischofs

 

Ein zwar weniger direkt politisches, aber von seiner moralischen und medialen Wirkung her nicht weniger wichtiges Ereignis als die realpolitische Mehrheit bei der SVP-Landesversammlung war schon der Fastenhirtenbrief von Bischof Joseph Gargitter vom Februar 1960 gewesen.

Auch wenn nur ein Teil Südtirols zur Diözese Brixen gehörte, so war doch der deutschsprachige Bischof die moralisch anerkannte Autorität für die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung des Landes. Die Erhaltung des ethnischen Friedens zwischen den Sprachgruppen bei gleichzeitigem Einsatz für eine verbesserte Autonomie war ein zentrales Anliegen der gesamten Amtszeit von Bischof Gargitter gewesen – aber nie war sein diesbezüglicher Einsatz so schwierig und wichtig wie in den Jahren 1960–1961. Während des gesamten Andreas-Hofer-Gedenkjahres 1959 war Gargitter deshalb allen politischen Veranstaltungen fern geblieben (selbst dem großen Landesfestumzug in Innsbruck vom 13.09.1959!) und war nur bei Feierlichkeiten rein kirchlich-religiöser Natur präsent gewesen.

Gargitters Fastenhirtenbrief war nicht bloß ein ganz allgemein gehaltener Appell zum Frieden und gegen Gewalt, wie er vielfach in der einschlägigen Literatur (soweit er überhaupt Erwähnung findet) mit nur einem Satz abgetan wird. Unter dem Titel Christliche Grundlagen der Gemeinschaftsordnung in Südtirol war er vielmehr ein umfangreiches Dokument, das in einer vierteiligen Folge vom Februar-März 1960 vom Katholischen Sonntagsblatt veröffentlicht wurde.

Ausgehend von der christlichen Soziallehre und deren beiden Prinzipien der Subsidiarität und Solidarität erläuterte der Bischof hierin die Rechte und Pflichten des Staates, der Minderheit und des einzelnen Staatsbürgers sowie die Rolle und Aufgaben der Kirche, der Parteien, der Presse und Verbände in der Gemeinschaft. Dann kamen klare Worte zur spezifischen Situation in Südtirol und die Notwendigkeit der Überwindung historischer Altlasten aus der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus:

„In Südtirol ist den Männern des öffentlichen Lebens eine ganz besonders schwierige Aufgabe auferlegt. Zwei Volksgruppen sollen hier ein friedliches Zusammenleben finden, eine völkische Minderheit muss in ihren unveräußerlichen, naturgegebenen Rechten geschützt und geachtet werden...(...)...Hier braucht es verantwortungsbewusste Männer auf beiden Seiten, die über alle Egoismen und Nationalismen hinweg unter mutigem Sichfreimachen von allem Denken und Handeln totalitärer Systeme, sich für eine Lösung der bestehenden Probleme und Schwierigkeiten aus christlichem Geiste heraus einsetzen“.

Bischof Gargitter wusste auch zur Genüge welche verhängnisvolle Illusion das sogenannte „politische Testament“ des im April 1956 verstorbenen Kanonikus Michael Gamper in den Köpfen so mancher Südtiroler „Patrioten“ ausgelöst hatte. „Ein Volk, das um nichts anderes kämpft, als um sein natürliches und verbrieftes Recht, wird den Herrgott zum Bundesgenossen haben!“ hatte Kanonikus Gamper im April 1956 in seinem Telegramm wenige Tage vor seinem Tod vom Krankenbett in München aus an die Landesversammlung der SVP geschrieben.

Dieser Satz Gampers stand denn auch nicht zufälligerweise am Ende jenes Flugblattes, das die „Südtiroler Freiheitskämpfer“ anlässlich der Feuernacht vom Juni 1961 verteilten und in dem die Südtiroler Bevölkerung zur Teilnahme am „Freiheitskampf“ aufgerufen wurde.

Beunruhigt über die politische Stimmung unter der deutschsprachigen Bevölkerung und die immer deutlichere Gewaltbereitschaft der kleinen Verschwörergruppe um den BAS und deren radikale Hintermänner in Innsbruck, hatte Gargitter daher schon 1959 klärend eingegriffen und bei einer öffentlichen Rede diesen Satz Gampers dahingehend interpretiert und ergänzt: „Gott zum Bundesgenossen haben wird ein Volk, das die verbrieften Rechtswege nicht verlässt, keine anderen Mittel gebraucht als die verbrieften Rechtswege“.

Nunmehr im Fastenhirtenbrief 1960 erteilte der Bischof erneut jeder politisch motivierten Gewaltanwendung eine Absage um dann sehr konkret zu den wegen der Südtirolfrage sehr konfliktbeladenen Beziehungen zwischen Rom, Bozen, Innsbruck und Wien Stellung zu beziehen:

„Es mag oft scheinen, dass man auf dem Wege der Verhandlungen durch die Zuhilfenahme aller verfügbaren Rechtshilfen nicht vorwärts kommt in der Erstellung der gewünschten Rechtsordnung. Da mag es so herschauen, als ob mit Gewalt und gewaltsamen Unruhen allein das Ziel erreichbar sei. Nun wissen wir alle, wie sehr die verantwortlichen Vertreter des politischen Lebens eine solche Propaganda, die zu unerlaubter Gewalttätigkeit anspornt, ablehnen und wie sehr sie davor gewarnt haben“.

Damit nicht genug der Warnungen vor einer möglichen Eskalation der Lage in und um Südtirol ging Gargitter in seinen konkreten Aussagen sogar noch einen Schritt weiter, denn die folgenden Sätze waren zweifelsohne auf den BAS und dessen Kreis von Sympathisanten gemünzt:

„Deshalb kann ich allen Katholiken, besonders aber der Jugend, nur mit allem Nachdruck sagen: Es ist euch als Christen nicht erlaubt, Aktionsgruppen oder Bewegungen beizutreten, die zu unerlaubter Gewaltanwendung greifen wollen. Um des Heiles eurer Seelen willen und um des Wohles unserer Heimat willen ermahne und bitte ich euch, lehnt alle Gewalt, alle Lüge und allen Hass ab. Bekennt euch zu Christus und deshalb zum Recht, zur Wahrheit und zur Liebe“.

Den 1917 geborenen und aus einer Familie von „Dableibern“ stammenden Bischof Gargitter mochte seit seinem Amtsantritt von 1952 die politische Entwicklung in gewissen „patriotischen Kreisen“ Südtirols beunruhigt und möglicherweise an Entstehung und Rolle des „Völkischen Kampfringes

Südtirols“ (VKS) zwanzig Jahre zuvor erinnert haben. Wohl auch aus diesem Grunde stand Bischof Gargitter bis Ende der 60er Jahre der Gründung einer eigenen Jugendorganisation der SVP mit Skepsis gegenüber.Eindeutig festzuhalten ist jedenfalls, dass die abfällige Bezeichnung als „walscher Seppl“ für Bischof Gargitter von Seiten des BAS nicht erst aus dem Jahre 1961 stammt. Damals hatte Gargitter Anfang August 1961, übrigens nicht anders als die SVP, die „Feuernacht“ und späteren Sprengstoffanschläge eindeutig verurteilt und in einer zweifellos wenig glücklichen Formulierung diese Attentate in einen Zusammenhang mit dem „Kampf des gottlosen Kommunismus gegen die freie, christliche Welt“ gebracht.

Die Ablehnung und Verspottung des Bischofs von Seiten der Sympathisanten, Attentäter und späteren politischen Häftlinge des BAS war das Resultat von dessen Fernbleiben von allen politischen Veranstaltungen des Gedenkjahres 1959 sowie dessen Hirtenbrief von 1960.

 

 

Der Kampf um die öffentliche Meinung

 

Im April 1960 bereisten fünf Mitarbeiter des Instituts für Meinungsforschung Allensbach Südtirol, um eine statistische Erhebung zur politischen Orientierung der deutschsprachigen Südtiroler durchzuführen. Den Auftrag für diese Studie hatte die Leiterin des Instituts, Elisabeth Noelle-Neumann, von ihrem persönlichen und politischen Freund Fritz Molden in Wien erhalten. Dieser hatte bereits bisher als „Presse-Zar“ Österreichs viel Geld und Medienarbeit in das „Unternehmen BAS“ investiert und bildete zusammen mit seinem Freund, den Generalintendanten des ORF, Gerd Bacher, so etwas wie die Rückversicherung und Garantie, dass die Propagandaarbeit des Bergisel-Bundes als eine Art „politischer Arm“ des BAS-Nordtirol in der Öffentlichkeit auch die gebührende und wohlwollende Beachtung fand.

Die große Schwachstelle dieser Propagandaarbeit war es aber bisher gewesen, dass die weitaus radikaleren Töne zur Südtirolfrage in Nordtirol und nicht in Südtirol selbst zu hören waren. Dies sowohl auf der politischen Ebene der Parteien wie auch des BAS in Nord- und Südtirol:

• hier die radikal-kompromisslose Position eines Aloys Oberhammer in dessen Funktion als Parteiobmann der ÖVP-Tirol, führendes Mitglied des BIB und Gründungsmitglied des BAS-Nordtirol, für den nur Selbstbestimmung und Grenzänderung in Frage kamen, dort die pragmatisch-realpolitische Position von Silvius Magnago als Parteiobmann der SVP

• hier die Befürworter des bewaffneten Aufstandes und Guerillakrieges auch um den Preis eines Bürgerkrieges der Gruppe um Wolfgang Pfaundler und Eduard Widmoser, dort die charismatische Führungsfigur des BAS-Südtirol, Sepp Kerschbaumer, mit der „Strategie der Nadelstiche“ und rein symbolischer Attentate auf Objekte des italienischen Staates bei strikter Vermeidung der Gefährdung von Menschenleben.

Diese hier nur ganz summarisch aufgezeigten Differenzen zwischen Innsbruck und Bozen waren natürlich auch in der Öffentlichkeit nicht ganz verborgen geblieben und hatten wiederholt nicht nur in den italienischen Medien, sondern auch in der internationalen Presse, Anlass für Urteile gegeben, um den Südtirolkonflikt in einer freilich oft sehr vereinfachenden Weise lediglich als das Ergebnis der Agitation gewisser „radikaler Kreise“ in Innsbruck hinzustellen.

Um derartigen Spekulationen den Boden zu entziehen wurde diese Allensbach-Studie in Auftrag gegeben, wobei, wie es Franceschini wohl richtig formulierte, „das als Ergebnis herauskommen sollte, was schon vorher von den Auftraggebern festgelegt worden war“.

Die zentralen Aussagen der „Umfrage in Südtirol“ waren in der Tat sensationell und dazu angetan, im BAS-Nord- und BAS-Südtirol alle Meinungsverschiedenheiten kurzzeitig vergessen zu lassen und für eine euphorische Hochstimmung zu sorgen:

Was die Haltung zur SVP betraf so meinten 56% der befragten Männer, dass sich diese „scharf für das Selbstbestimmungsrecht einsetzen“ müsste, 12% aller deutschsprachigen Südtiroler sprachen sich dafür aus, dass „bald losgeschlagen“ werden müsste und im Falle eines offenen Kampfes um die Selbstbestimmung erklärten sich 26% aller Befragten zur Unterstützung ihrer kämpfenden Landsleute bereit. Von diesen 26% erklärte wiederum genau die Hälfte, dass sie diesen Kampf auch dann unterstützen würde, falls die SVP ihn verurteilen würde. Von allen Befragten waren 37% der Überzeugung, dass Österreich den Südtiroler Aktivisten alles zur Verfügung stellen sollte, was diese in ihrem Kampf um die Lebensrechte der Volksgruppe benötigten.

Um das Ausmaß der tatsächlichen Akzeptanz der BAS-Strategie in der Südtiroler Bevölkerung besser beurteilen zu können, ist es nun vielleicht nicht unwichtig zu wissen, welche Verbreitung diese Allensbach-Umfrage in der medialen Öffentlichkeit Südtirols fand. Hier fällt zunächst auf, dass sie nach ihrer Präsentation in den österreichischen Medien von Mitte Juni 1960 im Parteiorgan der SVP (Volksbote) überhaupt nicht erwähnt wurde. Die Tageszeitung Dolomiten veröffentlichte am 18.06.1960 wohl eine Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen, die aber durch einen Kommentar des Chefredakteurs, Kammerabgeordneten und früheren Parteiobmanns Toni Ebner mit dem vielsagenden Titel Hundert Prozent – ohne Gewalt ergänzt wurde.

Ebner bezeichnete die Allensbach-Umfrage als vollkommen überflüssig, ja geradezu schädlich und besonders die Frage nach einer allfälligen Befürwortung oder sogar aktiven Unterstützung eines bewaffneten Kampfes wurde scharf verurteilt.

Die zentralen Sätze des Kommentars lauteten:

„Wir stehen daher auch bei dieser Gelegenheit nicht an mit aller Klarheit und Offenheit zu wiederholen, dass wir den Weg einer Gewaltlösung kategorisch ablehnen. Darüber haben wir auch in den Jahren 1945–46 niemanden in Zweifel gelassen und deshalb hätte diese Frage bei der Untersuchung viel besser unterlassen werden sollen und auch die Publizierung des diesbezüglichen Ergebnisses, weil dadurch nur unerfüllbare Hoffnungen geschürt und unsere Gegner etwa nicht abgeschreckt, sondern nur auf den Plan gerufen werden – unnötigerweise...[...]...Wir können eine Lösung der Südtirolfrage nur auf dem Rechtswege erblicken“.

Damit hatte innerhalb weniger Monate nach der Kirche und der Partei nun auch die Medienmacht des Athesia-Verlages ihr negatives Urteil über die BAS-Strategie ausgesprochen.

Die Aktivitäten Österreichs auf diplomatischer und medialer Ebene rund um die UNO-Debatte vom Herbst 1960 bedeuteten zweifellos den Gipfelpunkt des Bekanntheitsgrades Südtirols in der internationalen Politik.

Die UNO-Resolution vom 31.10.1960 bestärkte die realpolitische Position der bilateralen diplomatischen Verhandlungen und bildete eine herbe Enttäuschung für die hardliner auf beiden Seiten: sowohl für die Verfechter von Selbstbestimmung und Grenzänderung wie für jene, die die Südtirolfrage als ein ausschließliches Problem der italienischen Innenpolitik ansahen.

 

 

Eskalation in der Feuernacht

 

Eine weitere Auswirkung der UNO-Resolution dürfte die Krise im BAS vom Dezember 1960 gewesen sein, denn die internen Divergenzen über die weitere Strategie wurden nun zwangsläufig größer:

• Es kam zum offenen Konflikt zwischen Sepp Kerschbaumer und Wolfgang Pfaundler, der mit der „Abwahl“ Pfaundlers und dessen Ersetzung durch Heinrich Klier endete.

• Fritz Molden und Gerd Bacher verließen das „Unternehmen BAS“. Ob dafür ausschlaggebend war, dass die Strategie des BAS nunmehr offen in Widerspruch mit der offiziellen Südtirolpolitik Wiens stand oder ob auch eine direkte Intervention der amerikanischen Freunde Moldens (State Department und CIA) der Grund für diese Entscheidung war, ist bisher von der Forschung nicht geklärt worden.

Dazu kam eine Reihe von unvorhergesehenen Ereignissen, die in den nächsten Monaten den BAS in die Situation einer Art „Torschlusspanik“ nach dem Motto „Jetzt oder nie!“ brachten:

• Der Artikel des Magazins Der Spiegel vom 21.12.1960 mit dem Titel Freicorps Fleischmarkt enthielt viele brisante Details über Finanzierung, militärische Ausrüstung und politische Strategie des BAS. Der Hinweis darauf, dass der BAS nach dem Muster der zypriotischen EOKA von Oberst Grivas wegen der Südtirolfrage einen ähnlichen Konflikt im Herzen Europas provozieren könnte, war zweifellos beunruhigend für die Repräsentanten der europäischen Regierungen und Diplomatie

• Anfang Februar 1961 eröffnete Eduard Widmoser in Begleitung seines Freundes Donat Prantner bei einer Bozner Bank unter dem Decknamen „Doktor Hans Schmidt“ ein Konto des Bergisel-Bundes, über das die weitere Tätigkeit von Mitgliedern des BAS-Südtirol bezahlt werden sollte. Prantner, ein Stiefbruder von Georg Klotz und Schwager von Luis Amplatz, hatte in deren Auftrag bisher schon öfters den Schmuggel von Flugblättern des BAS-Nordtirol nach Südtirol organisiert. Er war daher ins Visier der italienischen Polizei geraten und Agenten in zivil waren bei der Eröffnung des Kontos anwesend. In der Folge wurde ca. ein Dutzend BAS-Mitglieder (unter ihnen auch so wichtige wie Josef Fontana und Luis Amplatz), die von diesem BIB-Konto Geld abgehoben hatten, kurzzeitig verhaftet.

• Am 6. März 1961 beschlagnahmten Sicherheitsbeamte das von Pfaundler in einer von ihm angemieteten Wohnung in Innsbruck angelegte Sprengstoff- und Waffenlager. Es war vom italienischen Geheimdienst entdeckt und dem österreichischen militärischen Abwehrdienst offiziell gemeldet worden, so dass eine allfällige Vertuschung durch die Behörden nicht mehr möglich war.

• Im Frühjahr 1961 verübten mehrere Mitglieder des BAS-Südtirol Attentate auf Einrichtungen des italienischen Staates bzw. italienischsprachiger Mitbürger in Südtirol (Bars, Kasernen, Wohnhäuser). In der Folge wurden einige BAS-Mitglieder bzw. Sympathisanten aus dem Umkreis des Schützenbundes kurzzeitig verhaftet und in Untersuchungshaft genommen.

Durch all diese Vorfälle war die italienische Polizei bedrohlich nahe an das illegale Netz des BAS-Südtirol herangekommen und vor allem waren konkrete Beweise über die Verbindungen zu Innsbruck aufgetaucht. All dies bedeutete aber, dass für den BAS ein Weitermachen nach der von Kerschbaumer stets vertretenen Strategie der „kleinen Nadelstiche“ nicht mehr möglich war ohne unnötige Gefahr für die gesamte Organisation. Was jetzt noch übrig blieb war die seit jeher vom BAS-Nordtirol favorisierte Strategie des „großen Schlags“ – und zwar möglichst bald.

Bei dem zur Vorbereitung der „Feuernacht“ einberufenen Treffen in Zernez vom 1. Juni 1961 wäre Kerschbaumer also auch gar nichts übrig geblieben, als dem zuzustimmen. Auch der Text des zur Verteilung an die Südtiroler Bevölkerung bestimmten Flugblattes sowie die Briefe an rund zwei Dutzend wichtiger Persönlichkeiten in Österreich und Südtirol mit der Bitte um Verständnis bzw. Unterstützung für die Attentate, lagen bereits fertig vor.

Alles was Kerschbaumer noch verlangte war, dass am Ende des Flugblattes der Satz mit dem politischen Testament Kanonikus Gampers hinzugefügt werden sollte. Dem wurde entsprochen.

Die „Feuernacht“ verfolgte unmittelbar zwei Ziele, ein ökonomisches und ein politisches:

• durch die auf den Bozner Talkessel konzentrierten Attentate auf die Hochspannungsleitungen sollte die Stromzufuhr unterbrochen, damit

die Hochöfen der Stahl- und Aluminiumwerke der Bozner Industriezone durch Erkalten zum Stillstand gebracht und die italienische Industrie der Lombardei und des Piemont an einem neuralgischen Punkt getroffen werden. Die Wiederinbetriebnahme der Hochöfen in Bozen wäre nur unter enorm hohen Kosten für den Staat bzw. die betroffenen Betriebe möglich gewesen. Dies hätte unweigerlich zu einer für Rom äußerst peinlichen öffentlichen Diskussion darüber geführt, ob das demokratische Italien die unter dem Faschismus errichtete Industriezone sozusagen ein zweites Mal aufbauen solle und dürfe.

• Mit der Stilllegung eines Teils der Bozner Industriezone als dem „Herz der italianità“ wäre unweigerlich auch ein Verlust von einigen Tausenden von Arbeitsplätzen verbunden gewesen. Im „kommunistischen Arbeiter“ der Industriezone war aber (neben dem „faschistischen Angestellten und Freiberufler“ von Gries) sozusagen als Antipode zum konservativen Bauern das Feindbild der italienischen Unterwanderung und Überfremdung des „deutschen Südtirol“ fokussiert. Die von kommunistischer Gewerkschaft und Partei zu erwartende Protestaktion wäre unweigerlich von einer ebensolchen von Seiten der extremen Rechten unter der Führung der neofaschistischen Partei (MSI ) begleitet worden. Damit wäre diesem im Zeichen der „Verteidigung der italianità“ Südtirols erfolgten nationalen Schulterschluss zwischen der extremen Linken und Rechten eine ebensolche kompakte ethnische Front auf deutschsprachiger Seite gegenübergestanden und der von Exponenten des BAS-Nordtirol anvisierte „Partisanenkrieg“ wäre in den Bereich des Möglichen gerückt.

Die „Feuernacht“ hat beide Ziele verfehlt. Zum einen weil aus technisch-organisatorischen Gründen nicht alle eingeplanten Strommasten gesprengt werden konnten und zum anderen weil die italienischsprachige Bevölkerung Südtirols keinerlei aktive Gegenstrategie entwickelte.

Der „große Schlag“ der Feuernacht wurde nicht, wie vom BAS erhofft, zum Signal einer allgemeinen Volkserhebung in Südtirol so wie dies der Bombenanschlag auf militärische und politische Einrichtungen des französischen Staates in Algier vom 1. November 1954 („Toussaint sanglante“ – „Blutiges Allerheiligen“) von Seiten der Nationalen Befreiungs-Front (FLN) als Auftakt zum Kampf des algerischen Volkes für die staatliche Unabhängigkeit gewesen war.

Der Sommer 1961 bedeutete das vollständige Scheitern der vom BAS anvisierten Ziele, denn der Großteil der Mitglieder bzw. Sympathisanten des BAS-Südtirol wurden im Juli-August 1961 verhaftet, nur einige von ihnen waren rechtzeitig nach Österreich geflüchtet.

Wichtige Exponenten des BAS-Nordtirol mussten sich wegen ihrer Involvierung in die Attentate aus rechtlichen bzw. politischen Gründen von ihrer Aktivität zurückziehen. Der erzwungene Rücktritt von führenden

Mitgliedern (wie etwa Widmoser, Pfaundler, Oberhammer) sowie interne Spannungen bedeuteten einen rapiden Zerfallsprozess und Imageverlust des Bergisel-Bundes. Dieses damit entstandene Vakuum wurde, unweigerlich begleitet von einer Zunahme der Gewaltbereitschaft und einer Abnahme der Skrupel in der Anwendung der Methoden, ab dem Herbst 1961 zunehmend von Aktivisten der rechtsextremistischen Szene aufgefüllt.

Es war also eingetreten was Viktoria Stadlmayer bereits in warnender Absicht in ihrem Memorandum von Anfang November 1959 und ausführlicher und präziser rückblickend im ihrem Memorandum von Januar 1962 als „Misserfolg der Bombenpolitik“ darlegte:

Der Vergleich Südtirols mit Zypern und Algerien sei aus vielen Gründen falsch, Südtirol und die Brennergrenze lägen nicht außerhalb, „sondern im Kern des europäischen Spannungsfeldes“ zwischen Ost und West und schließlich würden Bombenattentate im deutschsprachigen Raum Mitteleuropas von der öffentlichen Meinung unweigerlich „mit Nazismus und Pangermanismus“ in Verbindung gebracht.

In dem bereits erwähnten Aufsatz von 1993 umschrieb sie diesen Sachverhalt präzise: „So war nach der ‚weichen Linie‘ Gschnitzers auch die ‚harte Linie‘ ausgeschaltet. Zumindest die Tiroler Südtirolpolitik war zusammengebrochen“.

Ein Erfolg der „Feuernacht“ war allenfalls, dass nach der UNO-Debatte vom Herbst 1960 Südtirol wieder für kurze Zeit ein Thema der internationalen politischen und medialen Öffentlichkeit wurde. Dabei stand freilich die strikte Verurteilung der „Bombenpolitik“ weit mehr im Mittelpunkt der Berichterstattung als die Kritik an der bisherigen Südtirolpolitik Roms. Die plötzliche Eskalation des Kalten Krieges im Sommer 1961 veränderte aber wiederum schlagartig die Fokussierung der öffentlichen Diskussion in Europa. Denn mit dem Beginn des Baus der „Berliner Mauer“ genau zwei Monate nach der „Feuernacht“ (13.08.1961) wurde jegliche Diskussion um Südtirol klarerweise verstärkt aus der Optik des Kalten Krieges geführt und die Brennergrenze als eine NATO-Grenze erhielt damit jenen Stellenwert, so wie es Rom immer schon gewünscht hatte. Italien hatte bereits im April 1959 als erstes NATO-Mitglied auf europäischem Boden der Stationierung von US-Atomraketen zugestimmt und wenig später war mit der Errichtung des NATO-Stützpunktes in der Gemeinde Natz-Schabs dies auch Wirklichkeit geworden.

Aber auch ein weiteres, gänzlich unerwartetes Faktum war eingetreten: Die Folterungen von BAS-Häftlingen in den Carabinieri-Kasernen erwiesen sich in der Folge als hilfreich für die politischen Schritte Österreichs und der SVP. Denn hatten sich mit dem Griff zum Dynamit die Südtiroler moralisch ins Unrecht gesetzt, so stand nunmehr Italien mit seinen brutalen Polizeistaatsmethoden

in den Augen der Weltöffentlichkeit auf der Anklagebank. Auch darauf hat Viktoria Stadlmayer in ihrem Südtirol-Memorandum vom Jänner 1962 schon hingewiesen:

„So schrecklich es klingt, wurde diese Serie von Misserfolgen (der Bombenpolitik – LS) durch die Misshandlung von Südtirolern durch die italienische Polizei und durch den Tod zweier Häftlinge, der im Zusammenhang mit diesen Misshandlungen gesehen werden muss, zum Teil aufgewogen“.

Rom hatte auf die „Feuernacht“ mit einer Doppelstrategie reagiert:

• einerseits mit der harten Faust des Polizeistaates, mit nächtlicher Ausgangssperre und gigantischer Verstärkung der Sicherheitskräfte, mit Verhören, Hausdurchsuchungen und schließlich auch Folterungen zur Erpressung von Geständnissen – ganz so wie es auch Frankreich in Algerien und England in Zypern vorexerziert hatten.

• andererseits mit dem Angebot der Einsetzung einer paritätischen Kommission an die parlamentarischen Vertreter der SVP. Unter dem Druck der Umstände konnte die SVP, ohne sich vor der Weltöffentlichkeit dem Vorwurf der Gesprächsverweigerung aussetzen zu wollen, eine derartige Einladung zum Dialog auch gar nicht ablehnen. Damit hatte Rom die Gunst der Stunde nach der „Feuernacht“ genutzt und die Südtirolpolitik vorerst wieder dahin gebracht, wo es sie seit jeher haben wollte – auf die Ebene der italienischen Innenpolitik unter vorläufiger Ausschaltung Österreichs.

Die weitere Entwicklung der Südtirolfrage hing ab vom Erfolg oder Misserfolg der Arbeiten der am 01.09.1961 eingesetzten 19er-Kommission, von der hohen moralischen Reputation einer Persönlichkeit wie Bruno Kreisky als österreichischer Außenminister, vom Verhandlungsgeschick der SVP und insbesondere einer charismatischen Leaderfigur wie Silvius Magnago, vor allem aber von der italienischen Innenpolitik der nächsten Jahre. Hier hatte der Parteitag der DC von Neapel im Januar 1962 mit dem Beschluss zur „apertura a sinistra“ die entscheidenden Weichen gestellt. Zu einem der zentralen Punkte der Centro-Sinistra-Regierungen der nächsten Jahre gehörte unter anderem die Dezentralisierung Italiens, das hieß die Verwirklichung der Artikel 114–133 über die Rechte der Regionen, Provinzen und Gemeinden der Verfassung von 1948, die bis dahin toter Buchstabe geblieben waren. Die ersten Wahlen zu den Regionalparlamenten für die Regionen mit Normalstatut erfolgten in ganz Italien im Juni 1970 – genau ein halbes Jahr nach der Verabschiedung des sogenannten „Pakets“ als Basis für das Zweite Autonomiestatut von Seiten der SVP-Landesversammlung in Meran, des Parlaments in Rom und des Nationalrates in Wien im Dezember 1969. Vielleicht könnte die zeitliche Nähe dieser beiden Ereignisse Anlass sein darüber nachzudenken, inwieweit das Sprichwort „Es gibt keine politische Klugheit ohne Geduld“ seine Berechtigung hat.

 

 

LITERATUR

 

Manuel Fasser, Ein Tirol – Zwei Welten. Das politische Erbe der Südtiroler Feuernacht von 1961, Innsbruck/Wien/Bozen 2009

Christoph Franceschini, Artikel-Serie in „Die Neue Südtiroler Tageszeitung“ 21.02.2010, 11.04.2010, 24.10.2010, 15.04.2011, 06.05.2011, 20.05.2011, 27.05.2011, 03.06.2011, 10.06.2011, 17.06.2011

Gargitter Joseph, Fastenhirtenbrief 1960 (Katholisches Sonntagsblatt 1960 Nr. 9, 10, 11, 12)

Hans Karl Peterlini, Südtiroler Bombenjahre – Von Blut und Tränen zum Happy End? (Edition Raetia Bozen 2005)

Sammlung Leopold Steurer: Informationen zur Biographie verschiedener Mitglieder bzw. Sympathisanten des BAS-Südtirol (Interviews, Dokumente aus dem Bestand des VKS-ADO-Archivs im Südtiroler Landesarchiv und des Document Centers Berlin, Zeitungsartikel etc.)

Stadlmayer Viktoria, Franz Gschnitzer und Südtirol; in: Heinz Barta / Karl Kohlegger / Viktoria Stadlmayer (Hrsg.), Franz Gschnitzer Lesebuch, Universitätsverlag Wien-Innsbruck 1993, S. 1107–1156

Rolf Steininger, Südtirol zwischen Diplomatie und Terror 1947–1969

(Band 1–3, Athesia Bozen 1999)

Rolf Steininger (Hg.), Akten zur Südtirol-Politik 1959–1969 (Band 1–5, Studienverlag Innsbruck/Wien/Bozen 2005–2011.

Südtiroler Ruf – Mitteilungsblatt des Bergisel-Bundes, Innsbruck, Jg. 1959–1961