Autore: Carlo Romeo

Rif. bibl.: "Nachwort des Autors", in: Carlo Romeo, Auf den Spuren des Banditen Karl Guflers, Edition Raetia, Bolzano 2005, p. 129-137.

 

 

 

Carlo Romeo, Flucht ohne Ausweg, Edition Raetia 2005

 

 

 

NACHWORT DES AUTORS

 

 

Bereits aus den ersten Zeilen dieses Buches wird deutlich, dass es von vielen geschrieben wurde. Schon allein seine Struktur besteht aus Prosa und gerichtlichen Prozessakten und bei seiner Entstehung haben, ohne es zu wissen, viele Personen mitgewirkt (1).

Der Bandit Karl Gufler («Meiler Karl») aus dem Passeiertal weckte bereits zur Zeit meiner Diplomarbeit meine Neugierde, als ich mich mit dem Zweiten Weltkrieg in Südtirol befasste. Die einzelnen Bruchstücke, die ich über sein Leben zusammentrug, schienen einem Abenteuerroman oder –film entnommen zu sein: Er stammte aus ärmlichen Verhältnissen, musste schon früh als Knecht bei verschiedenen Bauern arbeiten, wurde wegen seines Einsatzes bei der Wehrmacht ausgezeichnet, wurde schließlich Deserteur, gefangen und zum Tode verurteilt, einer Strafkompanie zugeteilt aus der er wiederum desertierte und starb schließlich mit nur 27 Jahren bei einem Schusswechsel mit den Carabinieri. Ich glaubte, dass bereits nach den ersten Recherchen, die Geschichte nicht halten würde.

Wie mein Schicksal so wollte, war ich fünf Jahre lang Italienischlehrer im bischöflichen Seminar „Johanneum“ in Dorf Tirol, dem Tor zum Passeiertal, in dem diese Geschichte spielt. Dort, wo ich mich wohl oder übel einem Full-Immersion-Deutschunterricht unterziehen musste (außer dem Postboten und dem Carabiniere war ich fast der einzige „Walsche“ im ganzen Dorf), konnte ich beginnen, die Bruchstücke zu einem Bild zusammenzufügen.

In dieser Zeit lernte ich den Historiker Leopold (Poldi) Steurer kennen, damals der Einzige, der den Geschicken der Südtiroler Deserteure nachging. Außer Abendessen spendierte er mir auch eine Unmenge an Informationen und Dokumenten.

Während ich diese Daten, Recherchen und Zeitzeugnisse sammelte, entstand (paradoxerweise) eine Romanfigur. Gufler hatte in den Erinnerungen der Passeirer tiefe Eindrücke hinterlassen, sei es bei jenen, die ihn persönlich gekannt hatten, als auch bei jenen, die ihn nur aus Erzählungen kannten. Und alle hatten eine Anekdote über ihn auf Lager. Selbst nach 40 Jahren kannte man seinArt, seinen Charakter, seine Prahlereien, seine Redewendungen wie seine typische Äußerung «Schlarg an Aug ausser!» (2). Ein Gesetzesbrecher, ein Bandit, ein Robin Hood? Er war auf jeden Fall eine Legende, wie auch immer man von ihm sprach, mit Furcht, Sympathie, Mitleid oder Hass. Überraschend war auch, dass in der Todesurkunde der Pfarre von St. Martin in Passeier, sein „Beruf“ mit „Partisan“ angegeben ist.

Poldi Steurer verdanke ich einen weiteren glücklichen Zufall. Bei der Rekonstruktion des Lebens Guflers, fehlten mir immer noch Informationen zu seiner Flucht im Krieg aus der Strafkompanie in Ungarn nach Südtirol. Hans Egarter definierte sie «abenteuerlich». Unter den zahlreichen Interviews, die Poldi mit den Deserteuren machte, war auch jenes mit David Dissertori, der auch aus einer Strafkompanie geflohen war. Er sprach von seinem Fluchtkumpanen, dem Pseirer-Karl: Es handelte sich um Gufler. Ich merkte gleich, dass die Darstellung von Dissertori nicht nur ein Zeitzeugnis war, sondern auch höchste Erzählkunst, die ich authentisch in den Roman einfließen ließ (3).

 

 

Zwischen Genua und Vezzan

 

Eine andere glückliche Fügung war der Telephonanruf von Tino Arona, ehemaliger Partisan in Ligurien, der seit Jahren in Bozen lebte. Er erzählte mir von einem Freund aus Genua, einem berühmten Partisanen-Kommandanten. Dieser wollte nach Bozen kommen und bei dieser Gelegenheit nach einem Südtiroler Mitgefangenen suchen. Ich verstand gleich, von wem er sprach. Der Genueser war Giambattista Lazagna (4) und der Südtiroler Hans Pircher. Mit Poldi organisierten wir ihr Treffen in Vezzan im Vinschgau, das berührend war: Sie hatten sich 14 Jahre nicht mehr gesehen. Giambattista (“Gibi”) war im selben Gefängnis wie Pircher inhaftiert (Fossano) gewesen. Als dieser ihm seine Geschichte vortrug, schrieb er im Jahr 1975 ein Buch (Il caso del partigiano Pircher), das in der italienischen Öffentlichkeit soviel Aufsehen und Anteilnahme weckte, dass daraufhin der damalige Präsident der Republik den Südtiroler Ex-Partisanen begnadigte. Es war das erste Mal, dass in Italien in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, dass es während des Krieges unter den Südtirolern auch Deserteure und Partisanen gegeben hatte.

Hans Pircher, der in der Erzählung mit seinem Übernamen («Vinschger») genannt wird, so wie ihn im Passeier alle nannten, hatte nicht nur den Karl Gufler gekannt, sondern mit ihm viele der in diesem Buch geschilderten Ereignisse durchlebt.

Wegen seiner Aktionen in der «Gufler-Bande», hatte Pircher zehn Jahre im Gefängnis absitzen müssen (5). Nach dieser absurden, tragischen Zeit, hatte er zu vergessen versucht. Auch wenn all dies vor langer Zeit geschehen war, blieb er in seinen Aussagen zuerst abweisend. Auch dank der ansteckenden Energie von Silvana Stangherlin waren die „Treffen in Vezzan“ dann anders. Bei einem dieser Treffen, gleich nach dem Erscheinen meines Buches (6), steckte ich Pircher beim Abschied eine Ausgabe zu. In diesem Moment hatte er nicht die Zeit zu bemerken, was es für ein Buch war und dass es auch von ihm handelte. Ein Jahr darauf besuchten wir ihn wieder. Als wir uns verabschiedeten, holte er das Büchlein hervor. Wir hielten den Atem an. In dem Augenblick fürchtete ich, dass es ihm missfallen hatte, ungefragt als Romanfigur benutzt zu werden. Wird er sagen, das stimmt alles nicht? Oder dieses Buch hätte nicht geschrieben werden dürfen? Er hob den Finger wie zur Ermahnung, und schließlich sagte er, halb feierlich und halb im Scherz «Aber die Uhr der Rosa Raffl haben nicht wir gestohlen!» Es war die schönste Rezension, die das Buch hätte kriegen können.

 

 

Dichtkunst aus Carabinieri-Protokollen

 

Viele monatelang steckte ich Halsüberkopf in der Lektüre der Papiere der Prozesse der „Gufler-Bande“, besonders der Gerichtsakten. Hunderte von Aussagen und Berichten über die unterschiedlichsten Vorfälle: Diebstähle von Kühen, Speck, Stiefeln und Ferngläsern; Fluchtversuche und Brandstiftungen in Heustadeln; Hausdurchsuchungen, Terrormaßnahmen und Festnahmen von Seiten der Nationalsozialisten des Tales gegen die Angehörigen der Deserteure; Erpressungen der „Gufler-Bande“ während des Krieges und nachher. Es war nicht leicht, all diese kleinen und großen Vorfälle chronologisch zu ordnen. Bauern, Knechte, Mägde, Burschen, Pfarrer, Alte und Junge, Verwandte, Bekannte, die untereinander verfeindet waren, oft hatten sie dieselben Nachnamen, manchmal sogar denselben Vornamen, ganz zu schweigen von einem Übernamen, die in den Protokollen der Aussprache nach wiedergegeben waren. Ein ganzes Tal gestand in einem Frage-Antwort-Spiel vor der Schreibmaschine eines Carabiniere alles, was zwischen 1943 und 1947 passiert war, in einer bürokratischen Sprache, die auch Teil der Geschichte war, die ich erzählen wollte. Mit den Jahren hatte ich soviel Material angehäuft, dass ich nicht mehr wusste, was ich daraus machen sollte. Einen Roman? Ein historisches Essay? Eine Sammlung von Dokumenten?

 

 

Ein Moment der Aufruhr

 

In ungefähr zwanzig Tagen schrieb sich das Buch schließlich fast von selbst. In einem Moment des inneren Aufruhrs, der Spannung, ja des Zorns. Beim Lesen einer lokalen italienischen Tageszeitung, fiel mein Auge nämlich zufällig auf eine dieser Rubriken, die zum Füllen der Zeitungen dienen, wenn einem nichts Besseres einfällt, so z. B. der Art: „Was passierte heute vor 40 Jahren?…“ Unter dem Oktober 1951 stand da unter anderem zu lesen: «In Bozen beginnt der Prozess gegen die berüchtigte „Gufler-Bande“, die im Krieg die Bevölkerung des Passeiertals mit Mord, Raub und Vergewaltigung terrorisierte». Ich hatte Hunderte von Prozessakten gelesen, und darin war niemals von Vergewaltigung die Rede. Wahrscheinlich wollte der Redakteur, in der Eile und um Aufsehen zu erregen, noch etwas an Verbrechen hinzufügen: Mord, Raub und eben auch Vergewaltigung. Oder bei der Durchsicht der Zeitungen der damaligen Zeit verwechselte er die „Gufler-Bande“ mit dem Frauen-Serienmörder Zingerle. In den zehn Jahren nach Kriegsende gab es in Südtirol nämlich eine beeindruckend lange Reihe von Gewaltverbrechen. Statt eines (sinnlosen) Briefes an die Zeitung, schrieb ich also dieses Buch. Ein Patchwork, bei dem jeder Literaturkritiker die Nase rümpfen wird, weil, wie ich bereits erwähnte, das Buch von vielen geschrieben ist.

 

 

Das Ende des Romans

 

Die im Buch geschilderten Ereignisse beruhen auf historisch-gerichtlichen Recherchen und auf Aussagen von Zeitzeugen, schriftlichen oder mündlichen, die alle ausreichend zuverlässig und eindeutig sind. Nur bei einer Episode musste ich zwischen unterschiedlichen Hypothesen und Versionen wählen: Bei Guflers Tod. Wahrscheinlich wird man nie erfahren, wieso es an diesem Abend im März 1947 zum Schusswechsel mit der Carabiniere-Patrouille kam. Offiziell wurde er auf frischer Tat bei einem bewaffneten Raubüberfall ertappt. Oder war es während er wilderte? Oder eröffnete er von sich aus das Feuer aus Angst festgenommen zu werden, in die Falle gegangen zu sein? Wegen des unguten Klimas, das an der Südtiroler Grenze in der „heißen Nachkriegszeit“ herrschte?

Schließlich zog ich die offizielle Version vor, ohne mich in Hypothesen zu verlieren. An Gelegenheiten, wo sich Polizei und Ex-Deserteure beziehungsweise bewaffnete Banditen einen Schusswechsel liefern konnten, fehlte es sicherlich nicht. Karl Gufler stirbt als Bandit, das alleine steht fest. Die wenigen Elemente, die von seinem Tod zeugen, haben etwas Außergewöhnliches und Bizarres an sich, so wie alles, was von seiner Person überliefert wird: Der gewaltige Schusswechsel, als wäre wieder Krieg, der andauerte, bis die Munition ausging, ein kurzer Wortwechsel zwischen den zwei Parteien; eine letzte Patrone aus der Pistole des Carabiniere, die ihn trifft, während er, so als ob nichts gewesen wäre, in den dunklen Wald, aus dem er gekommen war, zurückkehren wollte. Das klassische Ende eines Romans.

 

 

 

ANMERKUNGEN

 

1) Außer einigen mündlichen Aussagen stammen alle Zitate aus den Akten der beiden Prozesse, die der von der Presse so genannten Gufler-Bande gemacht wurden: Geschworenengericht (Oktober 1951- Januar 1952) und Berufungsgericht Trient (Nov. 1953-Feb. 1954). Außer auf den Aussagen bei den Verhandlungen basierte ich mich auf die Untersuchungsakten «Processi verbali di interrogatorio» (Protokolle der Verhöre) der Carabinieri – Dienststellen von Meran Untermais, Riffian, St. Leonhard, «Esami di testimonio senza giuramento» - Einvernahmen der Zeugen ohne Eidesleistung (Untersuchungsrichter Adolfo Pombeni), «Interrogatori degli imputati» - Verhöre der Angeklagten (Bezirksrichter von Meran Francesco Seifarth).

2) Die wahrscheinlichste Interpretation (von Franz Lanthaler, dem ich danke) dieser in Erinnerung gebliebenen typischen Redewendung des Guflers ist, dass diese von «I’ schlòg dir an Aug ausser» kommt (Ich schlage dir ein Auge aus).

3) Das vollständige Interview mit David Dissertori ist im Buch von Leopold Steurer, Martha Verdorfer, Walter Pichler, Verfolgt, verfemt, vergessen. Lebensgeschichtliche Erinnerungen an den Widerstand gegen Nationalsozialismus und Krieg. Südtirol 1943-1945, Edition Sturzflüge, Bozen 1993, S. 397-418.

4) Der Rechtsanwalt Giambattista Lazagna (Genua 1923-2003), war stellvertretender Kommandant einer der Garibaldi –Partisanen-Einheiten (vom kommunistischen Lager), der auf dem ligurischen Appenin aktiven Brigade «Pinan-Cichero». Er war für seine militärischen Verdienste im Widerstand gegen die deutschen Besatzer und die mit ihnen kollaborierenden Faschisten mit der silbernen Tapferkeitssmedaille ausgezeichnet worden. Sein Buch Ponte rotto (1946, in mehreren Auflagen erschienen) stellt eines der bedeutendsten Zeugnisse des italienischen Widerstands dar. Der extremen Linken nahe, wurde er 1970 wegen des Vorwurfs von Kontakten mit den Roten Brigaden inhaftiert. Nach seiner Freilassung aus Mangel an Beweisen musste er zwangsweise seinen Wohnsitz von Genua in das abgelegene Dorf Rocchetta Ligure verlegen.

5) Über die unglücklichen gerichtlichen Verwicklungen von Hans Pircher, vgl. das Werk von Giambattista Lazagna Il caso del partigiano Pircher, Verlag La Pietra, Mailand 1975.

6) Carlo Romeo, Sulle tracce di Karl Gufler il bandito, Raetia, Bolzano 1993 (italienische Erstausgabe).